Ob eine Geistesgrösse von der Historiografie, der Literatur- oder Kunstgeschichte auf den Parnass zum dauerhaften Verbleib eingeladen wird oder nicht, hängt sehr oft von der Lobby ab, die sie sich entweder selbst geschaffen hat oder die sie aus ideologischen, künstlerischen oder sonstigen Antrieben der Nachwelt als beachtenswert empfiehlt.

Der böhmische Jude Ludwig August Frankl (1810-1894) verfügte über beide Fraktionen dieses geistigen Mäzenatentums, allerdings kamen beide aus Sicht späterer Epochen aus dem falschen Lager. Sowohl Wiens liberales Grossbürgertum wie auch die sich mit diesem überschneidende jüdische Intelligenz waren bereits ein Jahr nach Frankls Tod mit der Wahl Karl Luegers zum Wiener Bürgermeister mit Aussagen konfrontiert, die die Meinungsbildung dieser Gruppierungen langsam, aber sicher zu ihrem Nachteil verkehrte, ganz vom unterschwelligen Antisemitismus zu schweigen, der ohnehin auch bis dahin vorherrschte und etwa beim kurzfristigen Weggefährten Frankls, Ferdinand Kürnberger, durchaus manifest wurde. Frankl wurde weitgehend vergessen.
Ludwig August Frankl, 1810 im böhmischen Chrást geboren, durchlief eine Entwicklung, die nahezu prototypisch für die sich emanzipierende Judenschaft des Landes steht. Er stammt aus jener Generation, die von der genialen, wenn auch nicht aus humanitären oder kosmopolitischen Gründen getroffenen Entscheidung Josefs II. im Jahre 1792 profitierte, ein staatliches jüdisches Schulsystem einzuführen, eine europaweit einzigartig dastehende Massnahme, die er noch dazu von einem katholischen Bischof umsetzen liess und dessen ursprünglicher Auslöser die Berliner Haskala mit ihrem Hauptproponenten Moses Mendelssohn und über Umwege auch Josefs II. Berater Joseph von Sonnenfels gewesen war. Lange bevor 1867 den Juden im Kaisertum Österreich endlich die Gleichberechtigung zugestanden wurde, war es dadurch, wenn auch mit Mühen und Rückschlägen, vor allem dem böhmischen Judentum, wo dieses Schulsystem am erfolgreichsten war, möglich, sich aus der jahrhundertelangen Spirale der Bedrängnis herauszuwinden (vgl. Hecht 2011). Dass sich diese Befreiung nicht lange halten konnte, ist eine andere Geschichte.
Frankls deutsch-tschechische Volksschulbildung beruhte auf der speziellen Regelung des obgenannten Schulsystems, die besagte, dass in jenen Gemeinden, in denen keine jüdische Trivialschule finanziert werden konnte, Juden die christliche Schule besuchen mussten, wobei spezielle Regelungen dafür sorgten, dass jüdische Kinder weder seitens der Lehrerschaft noch der Mitschüler Diskrimination widerfahren sollte (ebd.). Typischerweise besuchte Frankl in der Folge die (auf deutsch lehrenden) Piaristengymnasien in Prag (wie etwa auch nahezu die gesamte Generation der später sogenannten Prager Deutschen Literatur) und Litomyšl und erfuhr damit jene deutsche Akkulturation, die in einem der ersten Kapitel des zu besprechenden Buches von Václav Petrbok mit der Frage nach Frankl als tschechischem Dichter durch ein Gespräch Frankls mit dem Kustos der Vatikanischen Bibliothek, Kardinal Mezzofanti, treffend thematisiert wird. Die jüdische Identitätsfrage war im Vielvölkerstaat ein wiederkehrender Topos, etwa bei Franz Kafka, Siegfried Kapper, sehr eigentümlich bei Fritz Mauthner, aber auch bei Max Brod, in dessen Biografie sich die Wandlung vom deutschen Kulturträger zum Zionisten klar abbildet. Ausführlich besprochen wird das Thema etwa von Hillel Kieval (1988) oder, was den Zeitraum vor 1848 betrifft, von Martina Niedhammer (2013).
Mit der Erwähnung von Václav Petrbok sei auf die Struktur dieser Biografie eingegangen: Es handelt sich um einen Sammelband, 15 AutorInnen diskutieren unterschiedlichste Aspekte dieser nicht-chronologischen Lebensbeschreibung, ausgehend von einer Fachtagung der Universität Olmütz zusammen mit mehreren Partnerinstitutionen ebenda im Jahre 2010. Treibende Kraft, Herausgeberin und gleichzeitig eine der Autorinnen ist Louise Hecht (derzeit – 2022 – an der Universität Potsdam), der für dieses Buch gar nicht genug Dank ausgesprochen werden kann, einerseits für die Initiative an sich, aber auch für die ausgezeichnete Zusammenstellung der Beiträge. Dieses passenderweise von Hecht „polyphone Biografie“ genannte Kompendium zeichnet sich durch erstklassige Recherche, Lesbarkeit und einen umfangreichen Apparat aus, das zumindest einem akademischen Publikum diesen nahezu vergessenen, seinerzeit jedoch höchst prominenten Intellektuellen wieder näher bringt und zwar, und das ist ebenso ein Vorzug, in zahlreichen unterschiedlichen Kontexten, die die Figur des Protagonisten plastisch in ein spezifisches, für die jüdische Bevölkerung Mitteleuropas sehr bedeutendes Zeitfenster einbauen.
Aus Zeit- und Kapazitätsgründen kann an dieser Stelle nicht auf jeden einzelnen Beitrag eingegangen werden, die Heraushebungen im Folgenden seien jedoch nicht als Bewertung gedacht, alle Beiträge sind gleichermassen interessant.
Frankl war offensichtlich eine sehr zugängliche und menschenfreundliche Natur, was die Kontaktaufnahme zu wichtigen Persönlichkeiten und Institutionen erleichterte und zahlreiche Bekanntschaften und Freundschaften ermöglichte, er war jedoch auch offenbar ein genialer Networker und Selbstvermarkter. Seine ersten Kontakte in Wien, die von Hecht in ihrer Einleitung dargestellt werden, ermöglichten ihm erste Publikationen und später seine bedeutende Position als Sekretär der Wiener Judenschaft bzw., nach ihrer Genehmigung, der Jüdischen Kultusgemeinde. Er war aber auch Revolutionär des Jahres 1848, was ihm nicht wenige Schwierigkeiten bereitete. Er hatte jedoch durch seine frühe Publikation, das „Habsburgerlied“, auch einen bleibenden Eindruck beim Kaiserhaus hinterlassen. Hecht zitiert die treffende Beschreibung durch Frankls frühen Biografen, Simon Szantó, als Geschäftsmann, Phantast, praktischen Geist und mit gebildetem Geschmack (vgl. Hecht 2016: 37, zit. nach Szantó 1863: 145).
Dieter Hecht und Georg Gaugusch ermöglichen in ihren Beiträgen tiefe Einblicke in die familiäre Umgebung Frankls, ersterer durch die ausführliche Darstellung der beiden Ehepartnerinnen und anderer Frauen in seinem Leben, letzterer durch eine detaillierte Genealogie. Jörg Krappmann diskutiert die Einordenbarkeit Frankls als Literat und kommentiert seine mögliche Unterrepräsentation im literaturhistorischen Kanon mit „Mag sein, dass grosse Literatur der individuellen Krise ihres Verfassers bedarf“ (Krappmann 2016: 135), die jedoch nicht eintrat.
Was Frankls literarische Tätigkeit vor 1848 betrifft, so hat sich hier Gertraud Marinelli-König im Rahmen ihres umfangreichen Komparatistikprojekts zur Publizistik des Vormärz verdient gemacht. Diese Betrachtung ist deshalb interessant, weil sich in dieser Periode nicht nur das cisleithanische Judentum in einer verhaltenen Aufbruchsstimmung befand, sondern gleichzeitig auch, neben anderen Nationalitäten, sich Böhmen bereits voll im Prozess des „Národní obrození“ befand, der u. A. von Johann Gottfried Herder indirekt initiierten Wiederbesinnung auf eine eigenständige Volkskultur und damit dem Streben nach mehr Autonomie. Dies führte einerseits zu einer Polarisierung, da vor allem ab 1867 das Prager – meist deutschsprachige – Judentum als „Deutsche“ betrachtet wurden, was auch zur einer tschechischen Spezialvariante von Antisemitismus führte, andererseits auf intellektueller Ebene zum Versuch, die beiden Seiten wieder mehr zusammen zu führen. Gerade Juden waren in vielen Fällen zweisprachig, wie dies auch aus dem oben erwähnten Gespräch Frankls mit Mezzofanti hervorgeht. Er versuchte etwa, den tschechischen Schriftsteller Václav Josef Klícpera der Wiener Leserschaft näher zu bringen, und war in serbischen Kreisen in Wien gern gesehener Gast. Hauptsächlich jedoch publizierte Frankl auf Deutsch, und das sehr zahlreich, zu Beginn in diversen Unterhaltungsblättern, ab 1842 meist, jedoch bei weitem nicht ausschliesslich, in seinen eigenen „Sonntagsblättern“, wie die akribisch recherchierte Studie von Marinelli-König darstellt.
Eine Kuriosität in Frankls schriftstellerischer Tätigkeit stellt seine Version der Biografie des spanischen Zwangskonvertiten (Marranen) Diego d’Aguilar dar, der, als Kind entführt, schliesslich als katholischer Bischof in Wien gelandet sein soll. Die historischen Fakten sehen anders aus, der Stoff wurde auch von anderen SchriftstellerInnen bearbeitet, die Zusammenschau Carsten Wilkes regt jedenfalls sehr zu weiterführender Lektüre an.
Mehrere Kapitel widmen sich unter unterschiedlichen Gesichtspunkten den Orientreisen Frankls (Marie Krappmann, Yochai Ben-Ghedalia, aber auch der zweite Text von Louise Hecht), wobei abgesehen von seiner unvoreingenommenen Darstellung der vorgefundenen Situation in Palästina besonders seine Mission zur Gründung der Lämel-Schule in Jerusalem hervorsticht, eine von Elise Herz, der böhmisch-jüdischen Witwe eines der ersten Zuckerfabrikanten des Landes, gestifteten Einrichtung, ursprünglich als interkonfessionelle Wohlfahrtseinrichtung geplant, deren Realisierung zahlreiche Probleme und Konflikte mit sich brachte, die jedoch, wenn auch unter mehrfach veränderten Vorzeichen, bis nach dem ersten Weltkrieg in Betrieb war. Diese hochinteressante Geschichte findet sich auch ausführlich in Moritz Antscherls „Elise Herz oder Geschichte einer Schule in Jerusalem“ aus dem Jahr 1910, allerdings in Form einer sehr poetisch gehaltenen Laudatio so gut wie aller vorkommenden Personen, und bei Niedhammer (2013).
Ein wichtiges Kapitel in Frankls Leben bildeten seine Denkmalpassion, die Gründung einer israelitischen Blindenerziehungsanstalt und des ersten Jüdischen Museums überhaupt. Diese Inhalte, vor allem die kontroversielle Rezeption seiner Spendensammlung für das Schiller-Denkmal in der Wiener Innenstadt, werden von Herlinde Aichner, Louise Hecht und Gabriele Kohlbauer-Fritz behandelt und zeigen zusammen mit Kapiteln über Frankl als Revolutionär, über seine Beziehungen zur Musikwelt und zu seinen Kritikern eine überaus vielseitige und hochinteressante Persönlichkeit, die das breite Spektrum jüdischer Erfahrungswelt in einem für Frankls Generation nahezu typischen böhmisch-österreichischen Kontext abbildet.
Was nach Ansicht des Autors in dieser Publikation fehlt, ist der Anteil Frankls an der Genese der Prager oder besser Böhmisch-Mährischen deutschsprachigen Literatur. Diese Bezeichnung wird sehr kontroversiell, aber ergebnislos diskutiert, Tatsache ist jedenfalls, dass es im Zeitraum nach 1848 bis 2008, also ausgehend etwa von der schriftstellerischen Tätigkeit Auguste Hauschners, geboren 1850, bis zum Tod Lenka Reinerovás eine Reihe von über 40, damals teils weltbekannten AutorInnen gab, die mit einem starken Bezug zu diesem Land auf Deutsch publizierten. Franz Kafka ist in diesem Kontext nur das touristisch vermarktete Aushängeschild. Dass ein beträchtlicher Anteil dieser Literatur im Ausland bzw. Exil entstand bzw. erschien (Hauschner, Werfel, Brod, Grab, Natonek, Winder, Hodin, Perutz usw.) ist möglicherweise eines der Alleinstellungsmerkmale dieser schwer definierbaren „Gruppierung“. Diese Literatur ist jedoch nicht von einem Tag auf den anderen entstanden:
Nach der hier bereits dargestellten deutschen Akkulturation der Juden in Böhmen und Mähren begannen bereits im frühen 19. Jahrhundert literarische Talente wie eben z.B. Frankl auf Deutsch zu publizieren, ebenso wie etwa Leopold Kompert („Ghettogeschichten“) oder Moritz Hartmann, da es dafür bereits ein deutsch lesendes jüdisches Publikum gab. Zu dieser Entwicklung hat auch die Gründung der Verlagsbuchhandlung des Wolf Pascheles in Prag und dessen Publikation der jüdischen Sagenkompilation „Sippurim“ beigetragen, die in zahlreichen Auflagen publiziert wurden. Daraus entstand jenes Phänomen einer deutschsprachigen Literatur ausserhalb der Zentren des deutschsprachigen Literaturbetriebs.
Nichtsdestoweniger ist das Buch wesentlich mehr als eine Biografie, es ist eine ausgezeichnet recherchierte Sammlung bedeutender Schlaglichter auf eine Epoche.
Günther Krumpak, Prag (2023)
Literatur
Antscherl, Moritz (1910): Elise Herz oder Geschichte einer Schule in Jerusalem. Prag: Jung Juda
Hecht, Louise (Hg.) (2016): Ludwig August Frankl (1810-1894). Köln / Weimar / Wien: Böhlau
Hecht, Louise (2011): Zwischen Haskalah und Cheder. Schulen und jüdische Erziehung in den Ländern der Böhmischen Krone. Reformierung des Elementarschulwesens durch Maria Theresia und Joseph II. In: Judaica Bohemiae XLVI, Supplementum 2011: Individuum und Gemeinde. Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien 1520 bis 1848 [Deutsch u. Tschechisch]. Helmut Teufel, Pavel Kocman, Alexandr Putík, Iveta Cermanová (Hg.). Židovské muzeum v Praze / Jüdisches Museum Prag, Společnost pro dějiny Židù v České republice / Gesellschaft für die Geschichte der Juden in der Tschechischen Republik. Praha / Brno: 159-352
Kieval, Hillel J. (1988): The Making of Czech Jewry: National Conflict and Jewish Society in Bohemia, 1870-1918. Oxford: Oxford University Press
Niedhammer, Martina (2013): Nur eine „Geld-Emancipation“? Loyalitäten und Lebenswelten des Prager jüdischen Großbürgertums 1800–1867. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht