Rezension: Claudia Nentwich (2022) Königswald.
Erzählung. Berlin: Klak-Verlag, 134 S., einige Abb.

Dieser autofiktionale Roman verbindet in zwei später zusammenfliessenden Handlungssträngen die Entdeckung einer nicht unbeträchtlichen Menge an von Vertriebenen zurückgelassener Gegenstände in einem Holzverschlag auf einem Dachboden. Das alte Gebäude ist einer der Schauplätze des Geschehens, es ist in dieser Geschichte das frühere Gasthaus der Grosseltern der in Berlin lebenden Erzählerin. Die Grosseltern, deutschsprachig, waren 1946 vom tschechoslowakischen Militär bzw. der Roten Armee gezwungen worden, binnen kürzester Zeit mit einem Minimum an Gepäck das Land zu verlassen. Der Ort, früher Königswald in Nordböhmen, heisst heute Libouchec.
Die Ich-Erzählerin wird von ihrem Lebensgefährten auf diesen Fund aufmerksam gemacht, der zufällig auf einen Bericht in einer Zeitung gestossen war. Der zweite Handlungsstrang entwickelt sich entlang der persönlichen Problematik einer tschechischen Lokalreporterin, die von ihrem Auftraggeber entsandt wird, über den Fund zu berichten.
Es ist aber nicht nur eine Geschichte, die mit zumehmendem Spannungsaufbau einem Kriminalroman nahe kommt, es ist auch, wenngleich nicht allzu tief gehend, die Darstellung von Entwicklungsprozessen, vor allem jenes der mit Beziehungsproblemen kämpfenden Journalistin und Alleinerzieherin. Die Erzählung greift auf die bewährte Darstellungsweise einander sich abwechselnder Handlungsstränge zurück, die anfangs weit auseinanderliegen und Zug um Zug zusammengeführt werden. Atmosphärisch ist auch sehr gut nachvollziehbar, wie die Befindlichkeiten bzw. die Stimmung der Bevölkerung in etwas abgelegenen ländlichen Gebieten der Tschechoslowakei wenige Jahre nach der Wende waren: eine noch aus der Vorwendezeit herstammende gewisse Reserviertheit gegenüber Fremden, sich nur sehr langsam öffnende Gesprächspartner, Misstrauen.
Die Journalistin, die schliesslich auf die Erzählerin trifft und ihr nach zögerlichen Anfängen auch ihre persönliche Situation schildert, beginnt zusammen mit der Autorin quasi detektivisch zu erforschen, was der Fund mit einem weiteren Ereignis der Familiengeschichte zu tun hat, ein Rätsel, das bis dahin unaufgeklärt geblieben war. Ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen, ist der Nukleus dieses investigativen Vorgehens der einzige Gegenstand, den die Erzählerin, die bei der polizeilichen Beschlagnahmung der versteckten Gegenstände anwesend ist, durch Zufall in die Hände bekommt und heimlich zu sich nimmt.
Der Ton der Erzählung ist klar, unverschnörkselt, leicht lesbar. Der faktische Hintergrund des Romans wird in einem kurzen Nachwort geklärt, wobei es sich auch hier um einen nahezu unglaublichen Zufall handelt.
Günther Krumpak, KulturCafé Prag, 2023