Die Dualität einer Stadt-Landschaft


Der Bindestrich ist ganz bewusst gewählt. Ich kenne keine andere Stadt – und ich kenne viele – die den Betrachter in eine derartig unerwartete, aber höchst willkommene Ambivalenz versetzen: Wo bin ich jetzt?

Mein Buch heisst nicht umsonst “Mein ganz anderes Prag”…

Die Rede ist von der ungewöhnlichen Topographie, dem geradezu verwirrenden Stadtbild von Prag. Nicht jenes, das 99 Prozent aller Touristen sehen. Dieses ist klassisch: Malerische Altstadt, Brücke, Burg. Den meisten entgeht dabei, wie grün diese Stadt ist, und dass dieses Grün nur in den wenigsten Fällen aus Parks oder Gärten besteht, obwohl es davon in Hülle und Fülle gibt. Die bei weitem ausgedehntesten Grünbereiche sind Stadtwälder und ganz einfach von der Verbauung ausgesparte Umgebungen, die teils sogar landwirtschaftlich genutzt werden. Manche dieser Gegenden, vor allem jene mit beeindruckender Szenerie, stehen unter Schutz, wie beispielsweise das Prokop-Tal mit seinen wildromantischen Felsen und das weiter westlich einmündende Dálej-Tal und seinem hübschen Bächlein. Aber auch Hodkovičky oder Starý Hloubětín (Sie müssen die Aussprache nicht lernen…) verleihen die Illusion des „sich am Lande Befindens“, vor allem, da die ursprüngliche Bebauung in vielen Fällen noch vorhanden ist und mit wenigen Ausnahmen die Bewohner die Dorfidylle nicht zerstören, eher noch pflegen.

Mitten in der Stadt…

Meine Faszination ergibt sich auch aus der Tatsache, dass die Übergänge oftmals abrupt stattfinden und wenige hundert Meter einen totalen Kontrast darstellen können, wie ich ihn erst gestern wieder erleben durfte. Ich nahm ein Ein-Wagen-Züglein (kategorisiert unter S-Bahn, woanders hätte man so eine Linie längst eingestellt, hier Gottseidank nicht) vom Hauptbahnhof, betrachtete die reizvollen, oft hübschen Hinterhöfe, an denen an Wochenenden auch aus Nostalgiegründen der Vorkriegs-Motoráček vorbeischrammt, überquerte die Moldau über die derzeit heiß umstrittene, weil abbruchgefährdete Eisenbahnbrücke beim Vyšehrad und tauchte bald nach dem Bahnhof Smíchov in eine ländliche Umgebung ein, die heute noch lange keinen Vorort mehr darstellt. Nach weiteren fünf Minuten stieg ich in Hlubočepy aus, jenem Dorf, das am Ausgang des Prokop-Tals zur Moldau liegt und sehr reizvolle Ausblicke auf die Umgebung bietet.

Am Weg vom winzigen S-Bahnhof nach Hlubočepy. Im Hintergrund auf der Anhöhe “geht die Stadt weiter”.
Haus mit passendem Felsen.

Der Zug fährt dann weiter auf den Prager Semmering, so genannt, weil er das Tal auf einem hohen Viadukt überquert und den Berg hinaufklettert. Nach etwa einem Kilometer geht es in den Wald und bergauf. Im Gegensatz zu anderen ländlichen Illusionen, wie etwa den Bránické Skály, wilden, steilen Felsformationen auf der Ostseite der Moldau, hört man hier absolut nichts vom Lärm der Stadt, aber man kann durch die Bäume ab und zu etwas von der rasch fortschreitenden Verbauung der Stadtränder in der Ferne erblicken.

Auf der Anhöhe angekommen, gönne ich mir einen Imbiss. Der Wald weicht riesigen Feldern, die Heuballen sind bereits zum Abtransport aufgestellt, und ich bestaune den absurden Gegensatz zwischen ländlicher Idylle und der Spitze eines in der Ferne aufragenden Schornsteins als einziges Symbol städtischer Infrastruktur (Später sehe ich dann dessen tatsächlichen Standort). Nach einer weiteren halben Stunde ein Garten, ein Schulsportplatz, Häuschen, ein Dorffriedhof, eine Kapelle.

Nach Durchqueren des Dorfrestes der Knall: Eine vierspurige, dichtbefahrene Strasse, und nach dem Übergang Jinonice, eines jener hypermodernen Viertel, die in den letzten Jahren in Prag entstanden sind, gemischte Verbauung, Wohnhäuser, Firmen wie Oracle, das letzte, schön renovierte Objekt der „Waltrovka“, der ehemaligen Motorrad- und Flugzeugmotorenfabrik Josef Walters, heute eine Abteilung von General Electric. Vor den Restaurants eine sehr internationale Bobo-Szenerie, die Autos in der Umgebung lassen auf guten Verdienst schliessen. Hoch über der Metrostation thront ein brandneues, gewagt designtes Gebäude der Karlsuniversität. Ich gehe zur U-Bahn, ich könnte aber auch in einen Zug der gleichen Bahnstrecke einsteigen, auf der ich hergekommen war. Der fährt nämlich nach dem malerischen Prager Semmering ebenso wieder zurück in die Stadt der Zukunft.

Der Dorffriedhof von Jinonice

Ich habe beide erwähnten Täler und auch andere Stadt-Landschaften bereits mehrmals besucht, immer wieder von einem anderen Ausgangspunkt aus, und die Überraschungen, die Gegensätze, nahmen kein Ende.

Das neue Stadtviertel Jinonice mit besagtem Schornstein

Der Hintergrund dieser sehr ungewöhnliche Topographie liegt im sprunghaften Wachstum dieser Stadt. Vor allem nach dem 1. Weltkrieg wurden für die neu zuziehende Beamtenschaft – die frühere Provinzstadt war Hauptstadt geworden und musste eine umfangreiche Verwaltungsstruktur aufbauen – neue Stadtviertel, meistens als Villenviertel, buchstäblich auf der grünen Wiese errichtet, und während des Kommunismus entstanden weitläufige Plattenbauviertel, mit, zugegeben, viel Grün dazwischen. Diesen Vierteln wurden jedoch meist nicht die ehemaligen Vororte geopfert, sondern sie wurden weiter ausserhalb angesiedelt, und manche Grünoasen gar nicht verbaut, sodass man oft aus der verbauten Zone ins Grüne gelangt und von dort wieder in die städtische Dichte eintaucht. Dazu kommt noch das ständige Auf und Ab der unzähligen, oft sehr steilen und auch felsigen Hügel, die eine Verbauung nur schwer zulassen.

“Hauptplatz” von Jinonice mit typischen David-Černý-Skulpturen.

Diese Mischstruktur verleiht der Stadt ungeheuren Charme und hohe Lebensqualität. Manche der Dörfer und Gegenden sind dermassen idyllisch und ruhig gelegen, dass es zum Kitsch nicht weit ist. Ich vergönne es den Bewohnern. Wer mit mir solche „untypischen“ Stadtwanderungen machen möchte, möge sich melden.

Das letzte erhaltene Gebäude der ehemaligen “Waltrovka”.

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