Prag, 16.10. 2021
Günther Krumpak versuchte den Beweis zu erbringen, dass zurückgehend auf Aufklärung und Haskala sowie deren spezifische Umsetzung in Böhmen und Mähren die Prager Deutsche Literatur als intellektuelle Explosion der grössten jüdisch-deutschen Sprachinsel entstand.

Es war der erste Vortrag einer Serie mit dem Titel “Geschichte im Kontext”, die sich der Geschichte und Kunstgeschichte Prags, der Böhmischen Länder und schlussendlich Mitteleuropas widmet. Im kulinarisch-literarischen Ambiente des neuen Prager Literaturcafés Božská lahvice lauschte ein kleines, aber feines Publikum fast eineinhalb Stunden den Ausführungen Krumpaks zu Aufklärung und deren Querverbinungen zur Haskala, ihrem jüdischen Pendant, wobei sich Krumpak jedoch, was die Haskala betrifft, auf die Argumentation des Göttinger Judaisten Gerhard Lauer berief, der die Haskala als Reaktion auf die ab dem 16. Jahrhundert entstehenden Erschütterungen der jüdischen Orthodoxie interpretiert.

Entscheidender Wendepunkt in der Entwicklung, die sich hauptsächlich zwischen Preussen und den Österreichischen Kronländern bzw. zwischen Berlin, Wien und Prag abspielte, war die Position der Schlüsselfigur Moses Mendelssohn und das Manifest des Preussischen Kriegsrats Christian Wilhelm Dohm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Die Reaktion darauf resultierte in der Folge unter anderem in der Einrichtung eines jüdischen Pflichtschulsystems in Böhmen und Mähren, das anderen ähnlichen Vorhaben weit überlegen war und hauptsächlich auf die Aktivitäten des späteren Bischofs von Leitmeritz, Ferdinand Kindermann und dessen Weitsicht und Diplomatie beruhte.

Dieses dichte Schulsystem hatte Deutsch als Unterrichtssprache und bot den Generationen, die daraus hervorgingen, eine neue, weitreichende und aus dem Judentum hinausgehende Bühne für ihr intellektuelles Expansionsstreben und erzeugte hohe Loyalität mit dem Haus Habsburg. Mit zunehmender Liberalisierung der die Juden betreffenden Gesetze und der nach 1848 erfolgten Polarisierung zwischen Tschechen und Deutschen in den Böhmischen Ländern neigte sich das dortige etablierte, städtische Judentum immer mehr einem elitären Deutschtum zu, das bei Tschechen zusammen mit der für sie nachteiligen politischen Entwicklung Unterlegenheitsgefühle erzeugte. Prag verfügte durch Zuzug über die weitaus grösste jüdische und damit jüdisch-deutsche Gemeinde, obwohl deren prozentueller Anteil gegenüber den tschechischen Zuwachsraten zurückging. Die jüdisch-deutsche Minderheit war in kurzer Zeit die kulturelle Dominante und agierte aus einer Inselkultur heraus, die nach der Jahrhundertwende mit Brod, Werfel, Kisch und vielen anderen Bestseller auf den Markt brachte.

Trotz der radikalen Wende 1918 war diese inzwischen sehr kosmopolitische und tschechenfreundliche Szene bis 1938 aktiv und, soweit sie dem nationalsozialistischen Terror durch Flucht entgehen konnte, entstanden auch während und nach dem Krieg viele Werke in einer zweiten Welle von populärer Literatur im Exil (Werfel, Brod, Urzidil sowie erstmals Kafka durch die Publikationstätigkeit Max Brods. usw.). Während des Kommunismus wurde die Prager Deutsche Literatur 1963 in einem gewagten Schritt von Eduard Goldstücker wieder entdeckt, einem slowakisch-tschechisch-jüdischen Germanisten, der mit zwei Fachkonferenzen 1963 und 1965 zumindest nach der Ansicht mancher Forscher den Prager Frühling einleitete. Mit der Normalisierung ist dieses Revival zu Ende, im Rest der Welt wurde weitgehend auf diese reichhaltige literarische Landschaft vergessen. Die letzte Vertreterin der deutsch-jüdischen Prager Literatur, Lenka Reinerová, begann jedoch nach 1989 im hohen Alter wieder zu publizieren und gründete zusammen mit dem ehemaligen tschechischen Botschafter in Deutschland, Dr. František Černý, das Prager Literaturhaus deutschsprachiger AutorInnen, um wenigstens für einen kleinen Kreis von InteressentInnen das Thema am Leben zu erhalten. Černý war Ehrengast dieser Veranstaltung und hielt die einführenden Worte.

Die ARCO Academy knüpft an diese Idee an. Der Vortrag wurde sehr gut angenommen, und wird Anfang 2022 wiederholt. Das Video des Vortrags wird noch bearbeitet und wird ab Ende Oktober 2021 zur Verfügung stehen.
Autorin: Dr. Petra Elisabeth Nykodým, Die Christliche Gemeinschaft Kultur-Literaturkreis
